28.08.20

Welchen Weg gehen wir?

 



Die einen sind wörtlich in Gefangenschaft, in Polen, im Ghetto, eingekreist und bedroht von Deutschen, und die andere ist in der Gefangenschaft ihrer Hilflosigkeit, weil sie die Ihren vor dem Mord nicht schützen kann. Das ist die Tragödie von Salunka Dancygier, die alle ihre jungen Schwestern, kleinen Nichten, ihre Mutter, Freunde, Bekannte und Verwandte in Dombrowo an die riesenhafte, rasende, allgegenwärtige Mordwelle verliert. Von der Schweiz aus sieht sie es, aus der Ferne, und liest die Briefe - die Worte derer, die sie liebt, die sie lieben... und weiß, sie kann nichts und niemanden retten. 

Die Deutschen lesen zur selben Zeit in der Zeitung, daß nun durch ihre Landsleuten durchgegriffen werde, daß man es sich nicht länger bieten lasse. Sie lesen, daß per Verordnung und Tatkraft alle Übel jetzt ausgerottet und die Welt für die Willigen und Richtigdenkenden endlich besser würde. Alle Störenfriede und Unruhestifter würden nun weggesperrt, mit harter Hand von der Erde vertilgt, damit die strahlende Zukunft der Guten endlich beginnen könne.

Die Gefangenen in Polen überlebten den unerbittlichen Willen der Deutschen zur Transformation der Welt nicht. Salunka Dancygier verbrachte ihr Leben mit dem schweren Versuch, dennoch zu sein, zu leben und zu lieben.

Ihre Tochter Yvonne Livay berichtet davon. Und wie sie den Weg der Mutter weiterging.

Welchen Weg gehen wir?


Yvonne Livay: Die Frau mit der Lotosblume, rainStein 2020

06.08.20

Im Sommer 2020


Es gibt Menschen, die interessieren sich für ihre eigene Geschichte: Woher ihre Familie stammt, wer sie sind und wie sie wurden, was sie sind. Sie wollen wissen, wer und was sie geprägt hat, wer und wie die Vorfahren waren. - Und überhaupt: wie war es früher, Wald und Wasser, Häuser und Kinder zu sehen? ....Sie stellen sich diese Fragen auch, um sich selbst besser zu verstehen, um sich vollständiger zu fühlen... um das eigene Leben künftig (oder gegenwärtig) besser "nutzen" zu können... Das ist nicht nur Neugier, nicht nur Spurensuche, nicht nur genealogische oder historische Leidenschaft, es ist auch eine uralte Art von uns Menschen, mit der Frage nach dem Sinn fertig zu werden.

Es ist allerdings zuweilen nicht so einfach, mit dem so Entdeckten umzugehen. Denn das neue Wissen kann neue Probleme aufwerfen - anstatt welche zu lösen. Oder zumindest alles noch komplizierter machen.

Oder es ist ganz anders - das neue Erkennen hilft, klärt, reinigt, stärkt. Auch wenn man nur das Gefühl hat, endlich etwas begriffen, ausgefüllt, bestätigt, wiedergutgemacht - dem Leben zurückgegeben zu haben.

Manchmal: zurückgegeben gegenüber Menschen, die durch Gewalt ums Leben kamen. Denn so etwas ist und war möglich. Es ist und war real...

Wenn wir auf die Vorfahren schauen: Großmütter, Tanten, Cousinen wurden umgebracht. Sie begegneten am hellichten Tag, nicht in Film oder Albtraum, dem Bösen. Sie standen dem Schrecken gegenüber, direkt und unausweichlich: Krieg, Verfolgung, Mord, Mensch für Mensch.

So geht es mit einigen Entdeckungen, die wir machen. Solche machen wir in beiden rainStein-Büchern dieses Sommers 2020:

Rhea und Ruth Schönborn "Das Kind im Park" und

Yvonne Livay "Die Frau mit der Lotosblume".

Ewa aus Dombrowa, Polen

Während wir uns also im Deutschland der Gegenwart, im Sommer 2020, mit einer fremdartigen Pandemie befassen sowie den darüber stattfindenden Diskussionen (oder auch deren Ausbleiben) und, samt Nachbarn, Freunden, Kollegen und Verwandten, nicht recht wissen, wie in Handlung, Ausdruck und Emotion mit der ungewohnten Lage umgehen, lesen wir in den neu erscheinenden rainStein-Büchern von Momenten, Tagen, Jahren, - Wintern, Sommern -, in denen Menschen, Verwandte der Autorinnen, ihr Unglück, ihre Unterwerfung, ihre Entrechtung und Ermordung vor Augen hatten -- und eben damit umzugehen gezwungen waren.

Diejenigen, die diesen Menschen, deren Leben tatsächlich gewaltsam beendet wurde, das Unvorstellbare antaten, die ihnen das Leben nahmen - waren die Menschen, die vor uns zu unserem Volk gehörten (sowie deren Helfer aus anderen Nationen): unsere Vorfahren, Menschen wie Du und ich, solche wie alle, die heute mit uns leben.

Was kann man tun? Was lernen?

Die einen haben den Verlust, Leerstellen, den immerwährenden Schmerz.
Die anderen haben Ratlosigkeit und eine Chance, zu verstehen. Ja, wer immer sich heute im Recht, im unzweifelhaft guten Teil der Menschheit wähnt, erinnere sich: Die damals das kleine Kind, die junge Frau, den Vater mitnahmen und dem Tod entgegenstießen, fühlten sich ebenfalls als Gerechte! Sie meinten im Recht, auf der Seite der Richtigen, im Namen des Guten zu handeln, zu sein.

So also entdecken einige noch heute Qualen auf ihrer Ahnentafel, ins Leere führende "Lebensläufe", die den Atem nehmen-. Und andere - andere entdecken das Schweigen. 

Und, wenn sie bereit sind, die Frage an sich selbst.

Hillel aus Berlin



01.08.20

Das Kind im Park - mitten in Berlin




Wohin sich wenden in Berlin? Ob Tempelhof oder Charlottenburg, Johannisthal oder Mitte oder Zehlendorf -- überall ist es erst Jahre, wenige Jahrzehnte her, daß Menschen gejagt wurden. In ganz Berlin. In ganz Deutschland. Im Namen des Richtigen, der besseren Zukunft, der gerechteren Welt - aus Überzeugung und Leidenschaft wurden Menschen gejagt, gefaßt und getötet. Mann, Frau und Kind. Es war egal, was der Einzelne gedacht, gesagt, getan hatte - nur welcher Gruppe er zugehörig war oder welche Zugehörigkeit ihm zugesprochen wurde von den Jägern, entschied über sein Schicksal.

Der Jäger waren viele, sie waren überall, sie hatten Schreibmaschinen, Schreibtischstühle, Kameras, Zeichenstifte, Waffen, sie erschienen in Uniformen oder Zivilkleidung, sie waren einfach überall, in jedem Haus, jeder Straße, jedem Büro. Mit Argusaugen und Eifer. Deutsche, schien es, in ihrem Element. Im Namen des Guten und Wahren wurde allgegenwärtig vernichtet. Man war sich sehr einig.

Und es waren viele, die zuschauten. Mit kleinen Dingen halfen. Formulare schickten, das Vernichten in Amtsstuben sorgfältig vorbereiteten, verzeichneten, abrechneten. Die Schulungen durchführten, Haltungen überprüften, Meldungen erstatteten. Mitnickten, mitsangen, mitschlugen. Zuträger und Nachträger des Jagens.

Solche gab es, die die Nachbarn, den Schlüssel schon in der Hand, meldeten. Die in die Wohnungen der Verjagten einzogen. Umgehend. Die die Vernichteten für Ungeziefer hielten. In ihren Betten schliefen, von ihren Tellern aßen. (Bis heute.)

Viele auch, die die Jagd nicht sehen wollten und sich nicht einmal eingestanden, daß die Jagd gerade stattfand - denn beim Hinsehen und Wahrhaben hätten sie ja auch sich und ihr Nichtstun sehen müssen. Sie hielten ihre Zeitung fest in den Händen, denn dort stand, daß alles gut war und, was geschah, nur gerecht und nur die Richtigen traf. Wer etwas anderes behauptete, war selbst ein Feind und mußte zum Schweigen gebracht werden.

Manche gab es, denen war die Jagd zuwider. Weil sie einen gut kannten und mochten, der da nun verfemt, verhöhnt, gezeichnet, durch die Straßen geschleift und getötet wurde. Es war ihnen zuwider, sie fanden es unwürdig und ungerecht, aber sie vermieden jede Regung, taten nichts, denn  - hätten sie ihr Gesicht verzogen, ein Wort gewagt, eine Hand gereicht - wären auch sie auf die Jagdliste geraten, auf die LKWs, in die Lager und Kammern des Todes. Das wußten sie. Hielten still. Und wurden krank an Albträumen.

Einige wenige aber kümmerten sich nicht um Zeitungen, Regierung und Nachbarn. Sie brachten es nicht über sich, die Gejagten als Schablonen eines Bösen zu sehen, dessen Verschwinden alle und alles nun heilen würde. Sie sahen die Gejagten und sahen nicht Schablonen, sondern Menschen. Sahen ihre Augen, Gesichter. Sie hielten die Tür auf. Sie gingen hin und holten ein Kind zu sich. Sie hielten diese Vogelfreien der Medien, der Regierung, die Lieblingsfeinde ihrer Nachbarn weiter für Menschen. Sie halfen. Und halfen trotz des Schwertes, das dann über ihnen hing --- mit ihrem ganzen Leben.

Diese Geschichte berichtet genau davon - von jenen, die halfen. Und von denen, die gejagt wurden - in den Tod... durchs Land... in tiefste Gefahr.

Diese Geschichte wird erzählt von einer, die als kleines Kind von gänzlich Fremden gerettet wurde - mitten in Berlin. Im Februar 1943.

Soeben, Ende Juli 2020, bei rainStein erschienen: Das Kind im Park.
Autobiographie, mit Dokumenten und vielen Fotos.

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