19.11.20

Mensch bleiben

 



November 2020. Zweifel und Verzweiflung bei so vielen Landsleuten. Und, ach, nicht nur hierzulande. Ein Virus, das allein durch sein Dasein und als Werkzeug uns aus allem gewohnten Leben reißt, in unabsehbare Zukunft stößt. Und jeder spürt, wie darunter und nach einiger Zeit die eigene Kraft, weiter sinnvoll und frei zu leben, begrenzt ist. Abgründe tun sich auf, draußen, zwischen uns, in uns. Wohin mit der Furcht? Wohin mit der Wut? Wohin, wenn es kaum noch etwas gibt, auf das sich setzen läßt? Womit uns trösten? Was den Kindern sagen? Was müssen wir tun? Welche Worte sind noch richtig? 

Wir haben keine Antworten. Was wir haben, sind mitgeteilte Lebens-Erfahrungen, die wir als Spiegel, Ermutigung, Warnung, Leitschnur, ja, auch zum Trost nehmen können. Hinter unserem Volk liegen Kriege, Inflation, lange und mörderische Diktaturen. Das sollte doch als Erkenntnisquelle und Rüstzeug reichen, auch wenn wir unwillig sind, selbst ebenso und wieder betroffen zu sein von den Seiten des Lebens, die wir verabscheuen.

Stellen wir uns der Realität. Lassen wir uns helfen. Lesen wir erneut in den rainStein-Büchern. Sie berichten aus den letzten einhundert Jahren, eine Schatzkiste an Lebenserfahrung, Lebensmut und Reflexion - vor allem von Frauen.

Anregungen geben eigentlich alle rainStein-Publikationen - und gegenwärtig, ergänzend, jene Beiträge, die, kurz und knapp, im neuen rainStein-youtube-Kanal veröffentlicht werden.

Lernen wir und gehen wir hinein in die Gemeinschaft derer, die wissen wollen, was ist und wie man darin Mensch bleiben kann.

10.11.20

Bücher zum November

 



Es sind nicht die ewig gleichen Themen. Es ist das ewiggleiche Leben. Denn es ist nicht so, daß wir enteilen könnten. Die Realität holt uns ein, wo immer, wann immer.

Wie gern wären wir die Lasten los. Wie gern hätten wir Drohung und Bedrohung hinter uns gelassen und wünschen uns so sehr, endlich die Früchte unserer Mühe und Arbeit zu ernten. Wie sehr wünschen wir uns, zu sagen: Nie wieder! Nie, denn das liegt hinter uns. Es wird nicht mehr sein! Wie sind frei, wir sind ohne Sorgen, der Kampf ist vorbei und die Folgen aller früheren Abgründe, Verbrechen, Kämpfe und das Versagen so vieler sind ebenso - verschwunden.

Es ist aber nicht so. Das Dunkle ist da, bleibt, eingegraben oder offen, und sieht nur manchmal ein wenig anders aus. Manchmal sehr anders. Manchmal sogar wie das Gegenteil dessen, was wir fürchten. Es behauptet auch, das Gegenteil zu sein - aber ist es nicht.

Woran erkennen wir, daß die Drohung den Raum betreten hat? An unserer Furcht, die wächst, ohne daß wir ihren Anfang bemerkt hätten? An dem dunklen Schatten, der über uns streicht? An dem Wort, daß wir nun doch nicht sagen? An der Erkenntnis, daß das, was zu lesen ist, dem widerspricht, was wir wissen?

Es war früher nicht anders. Zwar, was damals war, wird sich nicht wiederholen. Es wird aber wiederkommen - in anderer Gestalt.

Um uns also rechtzeitig zu wappnen, sollten wir uns erinnern, sollten uns orientieren, unseren Sinn und unseren Mut schärfen - wir sollten ihm u.a. begegnen, indem wir Zeitzeugen lesen. Zum Beispiel in folgenden rainStein-Büchern (und in anderen rainStein-Büchern, die hier nicht aufgezählt sind), - sehen Sie weitere Bücher, die Sie begleiten können, unter www.rainstein.de

Marianne

Das Kind im Park

Die Frau mit der Lotosblume

Frei in zwei Diktaturen 

30.10.20

Absurd und surreal

 

"Wieviel mehr, wie völlig absurd und surreal muß es für die Menschen 1940 gewesen sein, die aus normalem Leben heraus plötzlich überfallen, eingesperrt, von Vorschriften eingeengt, mehr und mehr ihrer Rechte beraubt und dann umgebracht wurden?" So steht es auf dem rainStein-blog


Hier der gesamte Text:

Diese Zeit jetzt verlangt so viel. Wer von uns fühlt sich dieser Tage nicht eingeengt, bedroht, ja in seinem Dasein eingesperrt? Wer macht sich keine Sorgen? Wer von uns weiß, wie es weitergeht, mit uns, unserem Leben im nächsten  Jahr - mit allem?

Kein Vergleich: Wieviel mehr, wie völlig absurd und surreal muß es für die Menschen 1940 gewesen sein, die aus normalem Leben heraus plötzlich überfallen, eingesperrt, von Vorschriften eingeengt, mehr und mehr ihrer Rechte beraubt und dann umgebracht wurden? --- Unvorstellbar.

Nachzulesen in unserem jüngst erschienenen Buch von Yvonne Livay Die Frau mit der Lotosblume.  Darin lesen wir die Briefe derer, denen das widerfuhr, wir erfahren vom Schrecken aus erster Hand.

Hierzu ein Leserkommentar von Dr. Angelika B. Hirsch: "Ich habe 'Die Frau mit der Lotosblume' gerade zu Ende gelesen. Es hat mich sehr beeindruckt und mitgenommen. Literarisch ist es natürlich sperrig, und zuerst macht es auch Mühe, weil nicht richtig etwas 'passiert'. Aber dann ist es gerade das, was die Situation so eindringlich macht. Ich fühlte mich so, als wenn ich am Zaun stehe und der Katastrophe im Zeitlupentempo machtlos zuschauen muss."

03.10.20

30 Jahre Deutschland - verspielt?

 

Auf dem Foto sehen Sie einen Ort meiner Kindheit, einen Ort der Freude, der, als Kind war es mir noch nicht bewußt, damals ein Ort des Verfalls war. Wasser und Schlösser hatten hier Kriege überdauert... das Wasser blieb, die Schlösser litten in Zeiten der Diktaturen. In der ersten durch den Krieg. In der zweiten durch Desinteresse und Abwehr.

Eigentlich waren die Schlösser ein Widerspruch in sich: das Volk liebte ihre Schönheit, den Charme von Wohlgestalt, Großzügigkeit, Verspieltheit, die Zeichen von Unbeschwertheit ehemals froher, kulturell anspruchsvoller Zeiten. Die Partei wollte sich mit all diesen schlösser-eigenen Vorzügen im In- wie Ausland ja auch schmücken, andererseits waren diese Bauwerke, leider, Zeichen eines vergangenen wie noch lebenden Klassenfeindes, den es zu bekämpfen, zu negieren und auszulöschen galt. Man - Partei, Staat und Staatsvolk - war eben Instrument des unabwendbaren historischen Fortschritts und dieser Fortschritt erforderte, die schrecklichen Seiten der Schlösserzeit auszustellen, nicht deren Herrlichkeit.

Eine der ersten Dinge, die meine Eltern in ihrem wiedergewonnenen westlichen Deutschland taten, war, dem Verein der Freunde preußischer Gärten und Schlösser beizutreten, nachdem sie den Verfall des oben zu besichtigenden Baukörpers nochmals intensiv wahrgenommen hatten. Der Aufbau dieses Kleinods war ihnen seither ein besonderes Anliegen, gut für zusätzliche Spenden - und Zeichen der neuen Zeit: das Alte sollte wieder gesehen, genossen, bewundert werden - um sich selber froh und frei und erhoben zu fühlen! Um sich verbunden zu fühlen mit den Altvorderen und dem, was man ewige Werte nennen könnte... - schließlich- wozu hatte man zwei Diktaturen bekämpft, überlebt und überwunden? Man hatte es ja fast für immer verloren - hier und jetzt galt es nun, im gemeinsamen Neugewinn jenem vernichtenden Kampf abzuschwören, dem Kampf gegen Andere (im Namen eines moralisch vorgeblich Guten), endlich und für immer.

Meine Eltern können nicht mehr sehen, daß Wasser und Gebäude im Herbstlicht glänzen wie ehedem, aber ihr Traum verdunkelt, gestört, ja verdreht wurde. Durch jene, die erneut all das, was war, umdeuten, abschütteln, denunzieren, verbannen wollen, die von alten Werten der Wertschätzung nichts wissen wollen und sich aufgemacht haben, ihre Gegner auszuschalten. Und dies können.  

Meine Eltern müssen dieses nicht heraufziehen sehen.

Wenn ich das Wasser betrachte, das geblieben ist und die Schönheit, die noch strahlt, dann glaube ich, daß eines Tages die alten Werte wieder leben werden. Nicht jetzt und vielleicht werde ich sie nicht wiedersehen. Aber sie sind stärker. Sie werden zurückkommen.

01.10.20

Und wenn nur eine gerettet wäre...

Und wenn nur eine gerettet wäre...

Für diejenigen, die die ungeheure Schreckenswelt erlebten, war wohl die dringendste Hoffnung, zu überleben. Die zweite, einer der Ihrigen möge überleben.

Und diese Hoffnung war von Anfang an und wiederholte sich, täglich, stündlich - jahrelang.

Für die, die schon gerettet waren, aber war es eine Pein, auszuhalten, daß der Himmel so blau, das Bett warm und der Frühstückstisch gedeckt war, während die, die sie liebten, irgendwo vor Angst erstarrten und täglich fortschreitend oder plötzlich durch irgendwen umkamen, umgebracht wurden.

Wie leben, während Mutter, Schwestern, Nichten daheim vor Todesangst vergehen? Wie leben, wenn die Briefe ausbleiben, Mutter, Schwestern, Nichten verstummen, weil sie ermordet sind?

Welche wahnwitzige, qualvolle Hoffnung, daß nur eine die Hölle überlebt haben möge! Irgendwie!

Der Hintergrund des dokumentarischen rainStein-Buches von Yvonne Livay, Die Frau mit der Lotosblume, ist eben dieses Drama.

Die eine - Yvonnes Mutter Salunka -, Schwester, Tochter, Tante, im sicheren Ausland, sieht in den ankommenden Briefen die wachsende Angst der Ihren und kann in aller Bemühung nichts Entscheidendes tun, sie zu retten.

Mutter, Schwestern, Schwäger, Nichten - sie wurden ermordet, zwischen 1942 und 1943.

Ein Schwager, früh ins Arbeitslager deportiert, überlebte, wanderte aus nach Israel.

Ungeklärt bleibt am Ende das Schicksal einer der Schwestern, die (wie der überlebende Schwager) früh ins Arbeitslager deportiert worden war. Ihre Briefe brechen Mitte 1943 ab, genau wie die der anderen Familienmitglieder, die im Sommer 1943 aus dem Ghetto direkt ins KZ deportiert wurden.

Arbeitslager - das war damals, so wahnwitzig es klingt, eine kleine Chance zum Überleben.

Hat diese Schwester, hat Adela überlebt?



Salunka versuchte, genau dies herauszufinden und ihre Nachforschungen haben sie zu dem Schluß geführt, daß Adela auf einem der Todesmärsche, die im Januar auch aus dem Arbeitslager (KZ) Grünberg-Ost, einer deutschen Wollmanufaktur, Richtung Deutschland begannen, ermordet wurde. So teilte es Salunka 1990 (?) der zentralen Dokumentationsstelle Yad Vashem in Jerusalem/Israel auf einem Erfassungsbogen handschriftlich mit.



Bei erneutem Suchen fand sich nun noch ein alter Eintrag: Getippt und deutlich vermerkt durch eine u.a. in Jerusalem arbeitende US-amerikanische jüdische Hilfsorganistion, nach deren Liste 1946 oder 1947 aus Jerusalem ein Hilfspaket im Wert von 7 $ an eine überlebende Adela Dancygier nach Walbrzych geschickt wurde - an eine Adresse also, die sich nicht weit von jenem ehemaligen deutschen Arbeitslager findet, das nach 1945 in Polen lag.

Dann - keine Spur mehr.

Dafür fand sich unerwartet eine andere Spur.

Um Adelas Schicksal möglicherweise aufzuklären, hatten wir nach Informationen zur Geschichte des Arbeitslagers Grünberg wie auch nach der Geschichte des Ghettos Dombrowa gesucht.

Dabei fiel uns eine Zeitzeugenaussage zum Ghetto auf. Es war der Bericht einer Frau, deren Alter, Name und Geschichte exakt zu einer im Buch Die Frau mit der Lotosblume mehrfach erwähnten und sogar zu Wort kommenden Freundin Adelas paßte: ihre Namensvetterin, jedenfalls was den Vornamen anbelangt. Daß der Nachname nun nicht mit dem im Buch verwendeten übereinstimmte, war erst einmal nicht wichtig - alles andere stimmte ja: Ort, Schicksal, Zeiten, - die Deportation von Dombrowa nach Grünberg, genau wie bei Adela Dancygier. War diese Frau möglicherweise die im Buch verzeichnete, nun vielleicht verheiratete, Adela Kestenberg? 

Um es kurz zu machen: Ja, das war sie. Diese Adela hatte, als eine der wenigen, Lager und Todesmarsch überlebt. Ihr war es gelungen... ihre Hoffnung hatte sich erfüllt. Und sie hatte sich nach all dem nicht nur ein neues Leben aufgebaut, in den USA, sondern hatte der Welt in Text und Film bezeugt, was in jener unausdenkbar schrecklichen Zeit gewesen war.

Und dann das Unerwartete - wir entdeckten: Sie hat nicht nur überlebt - sie lebt! Heute!

Eine Zeugin, die noch sprechen kann. Die als enge Freundin von Salunka, aus dem Arbeitslager Grünberg heraus und gemeinsam mit Adela Dancygier, gesprochen, geschrieben hat und noch berichten kann - im Alter von genau 100 Jahren!

Wir haben ihr jetzt das Buch in die USA geschickt - das Buch als das unabhängig entstandene Zeugnis jenes einstigen Kindes, zu dessen Geburt in Zürich sie, Adela Kestenberg, ihrer Freundin Salunka Cholewa (geb. Dancygier) aus dem Zwangsarbeitslager Grünberg heraus - zusammen mit Adela Dancygier - im Mai 1942 gratuliert hatte.

Übrigens fand sich noch ein Dokument: Adela Dancygier wie auch einige ihrer Familienangehörigen, stehen auf einer weiteren Liste, die erst im Januar 2020 öffentlich zugänglich wurde. Daraus geht hervor, wie sehr Salunka, als doch fast mittellose Jung-Einwanderin, neben allen Paketen nach Deutschland, ins Ghetto und ins Arbeitslager, auch in der Schweiz selbst um lebensrettende Hilfe für ihre Familie gekämpft hatte: Salunka versuchte, ihren Familienangehörigen ausländische Pässe zu beschaffen! Pässe, die eine Befreiung und Ausreise hätten ermöglichen sollten. Ergebnis: Adela Dancygier war, als eine von nur 3200 Juden, tatsächlich im Besitz einer neuen (zweiten) Staatsangehörigkeit, sie war laut der Lados-Liste (Warschau/Washington) Staatsangehörige von Paraguay.

Nur: Dieses Dokument oder/und Paß erreichte sie offenbar nicht oder bewirkte nichts.

Auf der Lados-Liste ist vermerkt, daß Adela Dancygier wie auch Rywka, ihre Mutter und Frania, ihre Schwester* mit neuen Pässen aus der Schweiz heraus versehen waren, aber nicht überlebt haben. Wie diese Informationen (vor allem, ob sie überlebt haben oder nicht) gesammelt wurden, wissen wir nicht. Aber: Alle diese Familienmitglieder stehen auf der Liste derer, für die im Ausland im ersten Schritt erfolgreich etwas bewegt werden konnte, für sie alle hat Salunka also gekämpft... Die Pässe und Staatsangehörigkeitsdokumente, von polnischen Diplomaten in der Schweiz in der kurzen verfügbaren Zeit einfach gefälscht, - sie retteten einige (nach manchen Berichten vielleicht nahezu die Hälfte) der Inhaber! Anderen, den meisten, nutzten sie nichts... Was immer Salunka unternommen hatte, und das war enorm viel, hatte nicht reichen können. Nichts hätte gereicht. Nichts wäre genug gewesen.

Wenn nur eine von ihnen gerettet würde.

 Wenn nur eine leben würde und bezeugen könnte...



379 Dancygier, Abraham Gabriel, 1895. Warschau. Paraguay. Umgekommen.

380 Dancygier, Adela, 1922. Dabrowa Gornicza. Paraguay, Staatsbürgerschaft. Umgekommen.

381 Dancygier, Anna (Chana Hinda), 1921. Warschau. Paraguay. Überlebt.

382 Dancygier, Frania. 1925. Dabrowa Gornicza. Honduras. Umgekommen.

383 Dancygier, Gila Fajga. 1918. Sosnowiec. Paraguay. Umgekommen.

384 Dancygier, Guta. 1922. Sosnowiec. Paraguay. Überlebt.

385 Dancygier, Halina (Chaja Sura) 1921. Warschau. Umgekommen.

386 Dancygier, Mordechai Salomou (Motek), 1919 Sosnowiec. Paraguay. Umgekommen.

387 Dancygier, Zidla. Grünberg Ost. Unbekannt.

388 Dancygier, geb. Fajersztajn, Lena Chaja, 1897 Warschau. Paraguay. Überlebt.

389  Dancygier, geb. Resecwajg Rywka Ita 1885, Dabrowa Gornicza. Unbekannte Dokumente. Umgekommen.


07.09.20

Gerettet

 


Eine wird gerettet, viele andere - nicht. Ein Kind wird denen entrissen, die ihre Ohren verschließen gegen alles Flehen und Klagen, denen, die Menschen wie wertloses Holz beiseite schieben, denen, die gegen die Schreie und aufgerissnen Münder gehen und über sie hinweg, um zuzupacken, schmerzhaft, um wegzuschleifen und fortzuwerfen. 

Ein Kind wird mutig denen entrissen, die niemandem ins Gesicht blicken. Denen, die schweigend mit großen Wagen kommen und brüllend mit Uniformen und Helmen. 

Einmal.

Am anderen Ort kommt niemand, um zu entreißen. Und niemand entkommt.

Warum erbarmen sich einige? Warum so viel Mut bei so wenigen? Während Tausende schlafen, Hunderttausende weghören, Millionen nicken und die Gefangenen verachten?

Hier ein Kind entrissen. Am anderen Ort nur eine Botschaft. Ein Zettel, heimlich davongetragen und in die Post getan. Der Schrei nach Leben, gegen den Tod überquert die Grenze, er allein - und wird gerettet. Der Schrei erreicht uns heute!

Beide Geschichten sind soeben im rainStein Verlag veröffentlicht worden.

Das Kind im Park von Rhea und Ruth Schönborn, Magdeburg/Berlin

Die Frau mit der Lotosblume von Yvonne Livay, Jerusalem

Im ersten Buch erzählt das gerettete, entrissene Kind. Und es weiß um seine Verwandten, die keine Retter hatten, die daher den Uniformierten nicht entkamen.

Im zweiten Buch wird uns von Briefen berichtet, von den Botschaften der Angst und des Abschieds... Botschaften der Schwestern, der Großmutter, die den Bewaffneten nicht entkamen. 

In beiden Büchern erfahren wir, wie es denen ergeht, die mit dem Überleben leben müssen.

Oben sehen Sie ein Gemälde von Ermanno Boller, er malte wiederholt diejenige, die nur noch Zettel in der Hand hatte, als alle ihre Verwandten daheim schon ermordet waren.

Was mit uns ist, das müssen wir entscheiden.

28.08.20

Welchen Weg gehen wir?

 



Die einen sind wörtlich in Gefangenschaft, in Polen, im Ghetto, eingekreist und bedroht von Deutschen, und die andere ist in der Gefangenschaft ihrer Hilflosigkeit, weil sie die Ihren vor dem Mord nicht schützen kann. Das ist die Tragödie von Salunka Dancygier, die alle ihre jungen Schwestern, kleinen Nichten, ihre Mutter, Freunde, Bekannte und Verwandte in Dombrowo an die riesenhafte, rasende, allgegenwärtige Mordwelle verliert. Von der Schweiz aus sieht sie es, aus der Ferne, und liest die Briefe - die Worte derer, die sie liebt, die sie lieben... und weiß, sie kann nichts und niemanden retten. 

Die Deutschen lesen zur selben Zeit in der Zeitung, daß nun durch ihre Landsleuten durchgegriffen werde, daß man es sich nicht länger bieten lasse. Sie lesen, daß per Verordnung und Tatkraft alle Übel jetzt ausgerottet und die Welt für die Willigen und Richtigdenkenden endlich besser würde. Alle Störenfriede und Unruhestifter würden nun weggesperrt, mit harter Hand von der Erde vertilgt, damit die strahlende Zukunft der Guten endlich beginnen könne.

Die Gefangenen in Polen überlebten den unerbittlichen Willen der Deutschen zur Transformation der Welt nicht. Salunka Dancygier verbrachte ihr Leben mit dem schweren Versuch, dennoch zu sein, zu leben und zu lieben.

Ihre Tochter Yvonne Livay berichtet davon. Und wie sie den Weg der Mutter weiterging.

Welchen Weg gehen wir?


Yvonne Livay: Die Frau mit der Lotosblume, rainStein 2020

06.08.20

Im Sommer 2020


Es gibt Menschen, die interessieren sich für ihre eigene Geschichte: Woher ihre Familie stammt, wer sie sind und wie sie wurden, was sie sind. Sie wollen wissen, wer und was sie geprägt hat, wer und wie die Vorfahren waren. - Und überhaupt: wie war es früher, Wald und Wasser, Häuser und Kinder zu sehen? ....Sie stellen sich diese Fragen auch, um sich selbst besser zu verstehen, um sich vollständiger zu fühlen... um das eigene Leben künftig (oder gegenwärtig) besser "nutzen" zu können... Das ist nicht nur Neugier, nicht nur Spurensuche, nicht nur genealogische oder historische Leidenschaft, es ist auch eine uralte Art von uns Menschen, mit der Frage nach dem Sinn fertig zu werden.

Es ist allerdings zuweilen nicht so einfach, mit dem so Entdeckten umzugehen. Denn das neue Wissen kann neue Probleme aufwerfen - anstatt welche zu lösen. Oder zumindest alles noch komplizierter machen.

Oder es ist ganz anders - das neue Erkennen hilft, klärt, reinigt, stärkt. Auch wenn man nur das Gefühl hat, endlich etwas begriffen, ausgefüllt, bestätigt, wiedergutgemacht - dem Leben zurückgegeben zu haben.

Manchmal: zurückgegeben gegenüber Menschen, die durch Gewalt ums Leben kamen. Denn so etwas ist und war möglich. Es ist und war real...

Wenn wir auf die Vorfahren schauen: Großmütter, Tanten, Cousinen wurden umgebracht. Sie begegneten am hellichten Tag, nicht in Film oder Albtraum, dem Bösen. Sie standen dem Schrecken gegenüber, direkt und unausweichlich: Krieg, Verfolgung, Mord, Mensch für Mensch.

So geht es mit einigen Entdeckungen, die wir machen. Solche machen wir in beiden rainStein-Büchern dieses Sommers 2020:

Rhea und Ruth Schönborn "Das Kind im Park" und

Yvonne Livay "Die Frau mit der Lotosblume".

Ewa aus Dombrowa, Polen

Während wir uns also im Deutschland der Gegenwart, im Sommer 2020, mit einer fremdartigen Pandemie befassen sowie den darüber stattfindenden Diskussionen (oder auch deren Ausbleiben) und, samt Nachbarn, Freunden, Kollegen und Verwandten, nicht recht wissen, wie in Handlung, Ausdruck und Emotion mit der ungewohnten Lage umgehen, lesen wir in den neu erscheinenden rainStein-Büchern von Momenten, Tagen, Jahren, - Wintern, Sommern -, in denen Menschen, Verwandte der Autorinnen, ihr Unglück, ihre Unterwerfung, ihre Entrechtung und Ermordung vor Augen hatten -- und eben damit umzugehen gezwungen waren.

Diejenigen, die diesen Menschen, deren Leben tatsächlich gewaltsam beendet wurde, das Unvorstellbare antaten, die ihnen das Leben nahmen - waren die Menschen, die vor uns zu unserem Volk gehörten (sowie deren Helfer aus anderen Nationen): unsere Vorfahren, Menschen wie Du und ich, solche wie alle, die heute mit uns leben.

Was kann man tun? Was lernen?

Die einen haben den Verlust, Leerstellen, den immerwährenden Schmerz.
Die anderen haben Ratlosigkeit und eine Chance, zu verstehen. Ja, wer immer sich heute im Recht, im unzweifelhaft guten Teil der Menschheit wähnt, erinnere sich: Die damals das kleine Kind, die junge Frau, den Vater mitnahmen und dem Tod entgegenstießen, fühlten sich ebenfalls als Gerechte! Sie meinten im Recht, auf der Seite der Richtigen, im Namen des Guten zu handeln, zu sein.

So also entdecken einige noch heute Qualen auf ihrer Ahnentafel, ins Leere führende "Lebensläufe", die den Atem nehmen-. Und andere - andere entdecken das Schweigen. 

Und, wenn sie bereit sind, die Frage an sich selbst.

Hillel aus Berlin



01.08.20

Das Kind im Park - mitten in Berlin




Wohin sich wenden in Berlin? Ob Tempelhof oder Charlottenburg, Johannisthal oder Mitte oder Zehlendorf -- überall ist es erst Jahre, wenige Jahrzehnte her, daß Menschen gejagt wurden. In ganz Berlin. In ganz Deutschland. Im Namen des Richtigen, der besseren Zukunft, der gerechteren Welt - aus Überzeugung und Leidenschaft wurden Menschen gejagt, gefaßt und getötet. Mann, Frau und Kind. Es war egal, was der Einzelne gedacht, gesagt, getan hatte - nur welcher Gruppe er zugehörig war oder welche Zugehörigkeit ihm zugesprochen wurde von den Jägern, entschied über sein Schicksal.

Der Jäger waren viele, sie waren überall, sie hatten Schreibmaschinen, Schreibtischstühle, Kameras, Zeichenstifte, Waffen, sie erschienen in Uniformen oder Zivilkleidung, sie waren einfach überall, in jedem Haus, jeder Straße, jedem Büro. Mit Argusaugen und Eifer. Deutsche, schien es, in ihrem Element. Im Namen des Guten und Wahren wurde allgegenwärtig vernichtet. Man war sich sehr einig.

Und es waren viele, die zuschauten. Mit kleinen Dingen halfen. Formulare schickten, das Vernichten in Amtsstuben sorgfältig vorbereiteten, verzeichneten, abrechneten. Die Schulungen durchführten, Haltungen überprüften, Meldungen erstatteten. Mitnickten, mitsangen, mitschlugen. Zuträger und Nachträger des Jagens.

Solche gab es, die die Nachbarn, den Schlüssel schon in der Hand, meldeten. Die in die Wohnungen der Verjagten einzogen. Umgehend. Die die Vernichteten für Ungeziefer hielten. In ihren Betten schliefen, von ihren Tellern aßen. (Bis heute.)

Viele auch, die die Jagd nicht sehen wollten und sich nicht einmal eingestanden, daß die Jagd gerade stattfand - denn beim Hinsehen und Wahrhaben hätten sie ja auch sich und ihr Nichtstun sehen müssen. Sie hielten ihre Zeitung fest in den Händen, denn dort stand, daß alles gut war und, was geschah, nur gerecht und nur die Richtigen traf. Wer etwas anderes behauptete, war selbst ein Feind und mußte zum Schweigen gebracht werden.

Manche gab es, denen war die Jagd zuwider. Weil sie einen gut kannten und mochten, der da nun verfemt, verhöhnt, gezeichnet, durch die Straßen geschleift und getötet wurde. Es war ihnen zuwider, sie fanden es unwürdig und ungerecht, aber sie vermieden jede Regung, taten nichts, denn  - hätten sie ihr Gesicht verzogen, ein Wort gewagt, eine Hand gereicht - wären auch sie auf die Jagdliste geraten, auf die LKWs, in die Lager und Kammern des Todes. Das wußten sie. Hielten still. Und wurden krank an Albträumen.

Einige wenige aber kümmerten sich nicht um Zeitungen, Regierung und Nachbarn. Sie brachten es nicht über sich, die Gejagten als Schablonen eines Bösen zu sehen, dessen Verschwinden alle und alles nun heilen würde. Sie sahen die Gejagten und sahen nicht Schablonen, sondern Menschen. Sahen ihre Augen, Gesichter. Sie hielten die Tür auf. Sie gingen hin und holten ein Kind zu sich. Sie hielten diese Vogelfreien der Medien, der Regierung, die Lieblingsfeinde ihrer Nachbarn weiter für Menschen. Sie halfen. Und halfen trotz des Schwertes, das dann über ihnen hing --- mit ihrem ganzen Leben.

Diese Geschichte berichtet genau davon - von jenen, die halfen. Und von denen, die gejagt wurden - in den Tod... durchs Land... in tiefste Gefahr.

Diese Geschichte wird erzählt von einer, die als kleines Kind von gänzlich Fremden gerettet wurde - mitten in Berlin. Im Februar 1943.

Soeben, Ende Juli 2020, bei rainStein erschienen: Das Kind im Park.
Autobiographie, mit Dokumenten und vielen Fotos.

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